Ca. ein Viertel aller Beschwerden, die bei der BIP eingehen, stammen von Angehörigen, berichten Dr. Torsten Flögel und Alice Lechner aus ihrer Perspektive als BIP-Beratende. Die Angehörigen sind, verglichen mit den sonstigen BIP-Klientinnen und Klienten, im Durchschnitt etwas älter und häufiger Frauen. Jedoch wenden sich auch junge Angehörige wie Lebensgefährtinnen und -gefährten, Geschwister, erwachsene Kinder und Freundinnen sowie Freunde an die BIP. Die fünf häufigsten Adressaten von Beschwerden Angehöriger sind die psychiatrischen Kliniken, gefolgt von den Rechtlichen Betreuenden, dem Sozialpsychiatrischen Dienst, Amtsgerichten und an fünfter Stelle den niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern. Oft geht es in den Beschwerden darum, dass die Angehörigen in die Behandlung der Betroffenen mehr einbezogen werden wollen. Die Angehörigen geben häufig auch wichtige Hinweise und kritisieren ganz konkrete Missstände in der Behandlung. Dazu zählen rigide Zwangsmaßnahmen, ein Überhang an medikamentöser Behandlung oder unkoordiniertes Entlassmanagement.
In der Bearbeitung der Beschwerden legt die BIP Wert auf den Trialog, so dass möglichst ein Gespräch zwischen den Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Mitarbeitenden des psychiatrischen Hilfesystems stattfinden kann. Diese von der BIP moderierten Klärungsgespräche können zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Einige Angehörige wünschen jedoch kein Gespräch, so dass die BIP anderweitig tätig werden und die Einrichtung um eine schriftliche Stellungnahme bitten kann.
Angehörige sind ein wichtiger Teil der psychiatrischen Landschaft
Stefan Weigand, BIP-Leitung, ergänzte, dass sich in den letzten Jahren in der psychiatrischen Landschaft ein besseres Verständnis entwickelt habe: Angehörige sind nun mehr und mehr selbstverständlicher Teil dieser Landschaft, etwa durch die weitere Verbreitung des trialogischen Ansatzes und die Ausbildung von Angehörigen-Peerberatenden. Aus Sicht der BIP ist die Möglichkeit für Angehörige, Beschwerden zu artikulieren, ihrem Ärger Luft zu machen, sich auszudrücken und Gehör zu finden, auch ein wichtiges Instrument zur Prävention von seelischen Krisen. Angehörige haben einen eigenen Blick, der für die Gesamtsituation sehr wichtig ist: Sie haben häufig engen Kontakt zu Betroffenen, sind Teil des familiären Systems, und können als Sprachrohr und Verstärker für dessen Anliegen fungieren, gerade in Zeiten, in denen dieser nicht gut für sich selbst eintreten kann.
Angehörige sind gut organisiert und treten politisch selbstbewusster auf
Gudrun Weißenborn vom ApK – Angehörige psychisch erkrankter Menschen Landesverband Berlin wies als Podiumsgast darauf hin, dass nur 20-30 Prozent der Menschen mit einer ersten psychischen Erkrankung in angemessener Zeit den Zugang zum Hilfesystem finden – aus ihrer Sicht ist das Versorgungsangebot damit desaströs und unakzeptabel für die Betroffenen. Dies nicht zuletzt, weil mit der Dauer und der Ausprägung der Krise auch die Belastung für Angehörige steige, die das Familienmitglied begleiten, betreuen, pflegen, finanzieren und beheimaten. Es fehle an niedrigschwelligen, aufsuchenden Angeboten für betroffene Menschen. Das bringe Angehörige in eine soziale Verantwortung, der nicht alle gewachsen seien. Ihre Position sei damit ganz konkret geschwächt, zumal sie sich in einer ambivalenten Doppelrolle befänden als Seismograph der Patienten-Bedürfnisse gegenüber dem Versorgungssystem einerseits und als konkreter Unterstützer andererseits. Dem versuche der ApK als Anlaufstelle für Angehörige in der Region entgegenzuwirken.
Der Berliner Landesbeauftragte für Psychiatrie Dr. Thomas Götz unterstrich ebenfalls die große Bedeutung der Angehörigen, die sich in den letzten Jahren zunehmend mehr organisiert hätten und politisch selbstbewusster auftreten würden. In der konkreten Praxis werde zwar zuletzt verstärkt der Open Dialogue gelebt, es sei aber immer noch Luft nach oben bei der Einbindung der Angehörigen in die Behandlung einerseits und bei der Entstigmatisierung in der Gesamtgesellschaft andererseits. Bezüglich der Gremienarbeit sei angesichts zahlreicher neu entstehender Gremien u. a. im Zuge des Bundesteilhabegesetzes genau zu überlegen, an welchen Stellen Angehörigenvertretungen einzubeziehen seien, um eine Überlastung zu vermeiden.
Im Vivantes Klinikum Neukölln, auf dem Podium repräsentiert von Oberärztin Dr. Monika Trendelenburg, existieren verschiedene Angebote für Angehörige. Unter Anderem findet eine Angehörigenvisite statt. Dadurch soll der belastenden Situation angemessen Rechnung getragen, die Familien konstruktiv in die Gesamtbehandlungspläne integriert und eine regelmäßiges Kommunikationsforum mit der Klinik zur Verfügung gestellt werden. An einem festen Wochentag werden in 14-tägigem Rhythmus bis zu zehn jeweils ca. 15- bis 20-minütige Termine durchgeführt, für die sich die Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen (ggf. auch Professionelle wie Wohnbetreuende, Amtsbetreuende, Bewährungshelfende) im Voraus eintragen. Dabei ist das Stationsteam stations- und oberärztlich, psychologisch sowie durch die Bezugspflegekraft und Sozialarbeitende vertreten. Zusätzlich kann eine intensive individuelle Beratung von Angehörigen durch die jeweiligen Sozialarbeitenden stattfinden. Alle Angehörigen werden zudem regelmäßig zur Angehörigengruppe eingeladen.
Von Ko-Abhängigkeiten und zugeknallten Türen
Auf dem Podium und mit dem zahlreich erschienenen Publikum entspann sich ein reger Austausch. Diskutiert wurde über Ärztinnen und Ärzte, welche Angehörigen – so ein Statement aus dem Publikum – „die Tür vor der Nase zuknallen“, aber auch über Ko-Abhängigkeiten zwischen Angehörigen und Betroffenen sowie über die Frage, wie Angehörige von Suchtkranken und von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund von der BIP erreicht werden können. Die Diskussion war inhaltlich so fokussiert, dass auch die Podiumsgäste Erkenntnisse für ihre eigene Arbeit mitnehmen konnten. Kerrin Elmen, die den Bundesverband der Berufsbetreuer/innen auf dem Podium vertrat, wies etwa darauf hin, dass sie künftig zeitlich flexiblere Gesprächstermine anbieten werde, um auch berufstätigen Angehörigen eine Teilnahme zu ermöglichen. Dr. Monika Trendelenburg hatte ein Aha-Erlebnis bezüglich des Hinweises, dass Angehörige vor allem beim Erstkontakt mit der psychiatrischen Versorgung große Hemmschwellen haben und daher in solchen Fällen besonders aktiv einbezogen werden sollten. Auch hinsichtlich der Schweigepflichtentbindung des Personals gegenüber den Angehörigen wurden Möglichkeiten einer flexibleren Ausgestaltung in der Praxis besprochen, z. B. dass Angehörige zwar nicht über die Inhalte der Behandlung informiert werden, aber zumindest über die Aufnahme und Entlassung der jeweiligen Patient*innen.
Die Veranstaltung endete damit allseitig mit neuen Erkenntnissen und die BIP hat auch im Nachhinein viel positive Resonanz erhalten. Das Feedback bestärkt uns darin, weiterhin im trialogischen Sinne die Beschwerden Angehöriger an- und ernst zu nehmen und diese Haltung auch an andere Beschwerdestellen wie etwa die Patientenfürsprechendezu vermitteln.
Stefan Weigand/Melanie Wolfram, Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie