Gesundheitsbezogene Angebote für ältere Menschen mit Migrationshintergrund, ihre Bedürfnisse und Bedarfe sowie ihre Inanspruchnahme der Angebote in den Bezirken Neukölln und Lichtenberg
Präsentationsveranstaltung am 19. Januar 2021
Die Gruppe der älteren Berlinerinnen und Berliner mit Migrationshintergrund wächst stetig, wodurch auch deren gesundheitlichen Bedürfnisse stärker an Bedeutung gewinnen. Im Hinblick auf die Ziele der interkulturellen Öffnung des Berliner Gesundheitswesens und der Niedrigschwelligkeit gesundheitsbezogener Angebote, hat die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung eine Bedarfsanalyse in Auftrag gegeben.
Das Ergebnis: Sprachbarrieren erschweren nach wie vor den Zugang zu bestehenden Angeboten. Zwar sind die Ergebnisse in der Praxis schon lange bekannt, aber die Bedarfsanalyse zeichnet ein strukturiertes Bild der Situation.
Ergebnispräsentation der Bedarfsanalyse:
Gesundheitsbezogene Angebote, Bedürfnisse und Inanspruchnahme durch ältere Menschen mit Migrationshintergrund (GABI)
Die Ergebnisse der Analyse präsentierten Dr. Birgit Wolter und Thorsten Stellmacher vom Institut für Gerontologische Forschung e. V. am 19. Januar 2021 dem Fachpublikum in einer digitalen Veranstaltung der Fachstelle für Prävention und Gesundheitsförderung.
Im Zeitraum von September 2018 bis Oktober 2019 wurde in den Bezirken Neukölln und Lichtenberg untersucht, welche gesundheitsbezogenen Bedarfe und Bedürfnisse ältere Menschen mit Migrationshintergrund äußern, wie sich ihr Zugang zu gesundheitsbezogenen Angeboten gestaltet und die Passung zwischen bestehenden Angeboten und Bedürfnissen identifiziert. Auf Grundlage der Ergebnisse wurden fachliche Empfehlungen für die (Weiter-)Entwicklung von Angeboten formuliert.
Um auch zukünftige Bedarfe mit zu erfassen, wurden Menschen mit Migrationshintergrund schon ab einem Alter von 55 Jahren in die Untersuchungsgruppe miteinbezogen. Neben einer Recherche zu bereits existierenden gesundheitsbezogenen Angeboten kamen auch Expertinnen und Experten, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie ältere Migrantinnen und Migranten selbst in Einzelinterviews und Fokusgruppen zu Wort.
Ergebnisse
In der Untersuchung fiel auf, dass die Zielgruppe ihre Bedürfnisse in eher vertrauten Gesundheitsbereichen wie der medizinischen Versorgung oder Pflege zur Sprache bringt. Die Themenfelder Rehabilitation und Prävention spielten eine geringere Rolle.
Da für ältere Menschen mit Migrationshintergrund die Sprache häufig eine Barriere darstellt, zeigte sich der Bedarf an muttersprachlichen oder zweisprachigen Gesundheitsinformationen – auch zum Gesundheitssystem selbst. Auch geeignete Informationskanäle sind wichtig, damit gesundheitsbezogene Angebote in Anspruch genommen werden. Insbesondere Ärztinnen und Ärzten haben eine Schlüsselrolle beim Zugang zum Gesundheitssystem: sie genießen eine hohe Achtung in der Zielgruppe. Auch Frauen spielen eine wichtige Rolle, da ihnen innerhalb der Familien häufig die Verantwortung für die Gesundheit zugeschrieben wird. Als Multiplikatorinnen könnten gerade sie Gesundheitsthemen an die Zielgruppen herantragen. Einen konkreten Bedarf nach gendersensibler Pflege äußerten muslimische Frauen.
Empfehlungen
Die anschließend formulierten fachlichen Empfehlungen der Studie gehen über das Thema der kulturellen Öffnung des Gesundheitssystems hinaus und geben konkrete Maßnahmen an die Hand, um die Situation zu verbessern.
1. Implementierung von Diversity Management zur Förderung des institutionellen Umgangs mit Verschiedenheit
2. Abstimmungs- und Vernetzungsbemühungen zur interkulturellen Öffnung des Gesundheitswesens unterstützen und stärken
3. Ausbau der Sprach- und Kulturmittlung im Berliner Gesundheitswesen
4. Ärztinnen und Ärzte als Schlüsselpersonen für Gesundheit stärken
5. Hausarztpraxen und Gesundheitsleitstellen in der Notaufnahme
6. Stadtteilzentren als bezirkliche Anlaufstellen und Gesundheitszentren ausbauen
7. Entwicklung niedrigschwelliger, mehrsprachiger Informationsmaterialien und -formate zu Gesundheitsthemen
8. Ausbau kulturspezifischer Bereiche in stationären Einrichtungen
9. (Weiter-)Entwicklung von Angeboten als Antwort auf Gesundheitsrisiken
Diskussion
Der Anteil älterer Menschen mit Migrationshintergrund wächst – und damit auch der Handlungsbedarf in Berlin. Darüber sind sich die Teilnehmenden einig, deren Erfahrungen aus der Praxis mit den Studienergebnissen übereinstimmen. Zwar sind die Ergebnisse in der Praxis schon lange bekannt, aber die Bedarfsanalyse zeichnet ein strukturiertes Bild der Situation. So konnte gezeigt werden, dass die in der Praxis als selbstverständlich empfundenen Ergebnisse sich in der bestehenden Angebotslandschaft widerspiegeln.
Für Menschen mit Migrationshintergrund stellt die Sprache häufig die größte Barriere dar. Insbesondere, wenn Menschen nicht die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens besitzen, ist der Zugang zu Gesundheitsinformationen erschwert und es müssen andere Informationskanäle genutzt werden. Darüber hinaus ist die sprachliche Barriere immer zweiseitig zu betrachten: es geht nicht nur darum, dass wenige Deutschkenntnisse auf der einen Seite vorhanden sind, sondern auch darum, dass die andere Seite nur über geringe Fremdsprachenkenntnisse verfügt.
Der Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Gesundheit wurde in der Studie nicht explizit betrachtet. Viele andere Untersuchungen haben gezeigt, dass die gesundheitliche Situation stark mit dem Bildungsstatus korreliert. Menschen mit hoher Bildung haben durchschnittlich eine bessere Gesundheit als Menschen mit niedrigem Bildungsstatus. Dieser Befund ist unabhängig vom Migrationshintergrund – er gilt für Menschen, die in Deutschland geboren sind, ebenso wie für Menschen mit Migrationshintergrund.
Die Teilnehmenden diskutierten kritisch die Empfehlung, dass Frauen als Multiplikatorinnen für Gesundheitsthemen fungieren könnten. Es wurde angemerkt, dass das Thema Gender nicht außenvor gelassen werden darf und auch Männer in diese Empfehlung mitaufgenommen werden sollten. Im Rahmen der Studie wurde festgestellt, dass Männer beim Thema Gesundheit schwerer zu erreichen sind als Frauen. Es bedarf also sowohl männlicher Multiplikatoren als auch einer besonderen Ansprache. Dr. Birgit Wolter gab zu bedenken, dass hier zu differenzieren ist: Man muss die Menschen da abholen, wo sie stehen – unter Umständen auch mit ihren Geschlechterrollen. Auf der anderen Seite kann es eine Chance sein, über die junge Generation Gesundheitsthemen an die Zielgruppe heranzutragen und Rollenbilder auf diesem Wege zu thematisieren und aufzubrechen.
Wie geht es mit den Ergebnissen der Bedarfsanalyse weiter?
Zunächst fließen die Studienergebnisse in die Gremienarbeit der Landesgesundheitskonferenz mit ein. Auf institutioneller Ebene bleiben die Senatsverwaltungen und Bezirke darüber im Austausch, wie die Umsetzung der Empfehlungen vorangebracht werden kann.
Die Veranstaltung endete mit der Feststellung, dass niedrigschwellige Angebote für alle Menschen wichtig sind. Die Komplexität des deutschen Gesundheitssystems stellt nicht nur zugewanderte Menschen vor eine große Herausforderung, sondern betrifft alle Menschen.
Weitere Informationen
Bericht zur Bedarfsanalyse (nicht barrierefrei)